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    Wilhelmine Heimburg

    Unverstanden.

    „Vetter Ulrich! Vetter Ulrich!“ rief eine frische Mädchenstimme hinter mir, als ich eben aus dem Gartenpförtchen hinausging, und mich umsehend, erblickte ich über dem glänzenden Grün der Cornelius-Kirschhecke den blonden Kopf meiner Base Frieda.

    Frieda war mir eigentlich mehr als nur Base. Ihr hübscher, kleiner, rother Mund hatte mir just vor einem Jahre in der verschnittenen Buchenlaube dort unten im Garten feierlich versprochen, sie wolle meine Frau Doctorin werden, eine Thatsache, die großen Sturm erregte in dem freundlichen Oberförsterhause. Denn der Onkel schalt uns dumme Kinder und wollte nichts wissen von einer Studentenverlobung, und die Tante, die gute, freundliche, stand officiell auf ihres Mannes Seite, heimlich aber tröstete sie an uns herum und malte uns in den prächtigsten Farben aus, wieviel schöner ein solches Glück sei nach einer kurzen Prüfungszeit, die noch dazu nur dreihundertfünfundsechszig Tage dauere.

    Nach einem Jahre nämlich dürfte ich, wenn ich noch so dächte wie jetzt und es bis dahin wirklich zum „Doctor“ gebracht, auch glücklich das Staatsexamen bestanden hätte, im Oberförsterhause wiederum anfragen; so lautete des gestrengen Onkels Ultimatum. „Und,“ fügte er noch hinzu und nahm die Pfeife ans dem Munde, aus der er so rasch und hastig geraucht hatte, daß die blauen Wölkchen so regelmäßig wie bei einer arbeitenden Dampfmaschine hervorgequollen waren, „und, mein alter Junge, ich erwarte nun von Dir, daß Du dem Mädchen, der Frieda, nicht Fisematenten in den Kopf setzest mit Liebesbriefen und unnütz Papier verschwendest. Nach so einem Wisch sind die Frauensleute allemal acht Tage lang nicht zurechnungsfähig; bis sie geantwortet haben, verlieren sie Schlüssel, lassen die Suppe anbrennen, und wenn das Geschreibsel endlich zur Post ist, gucken sie schon anderen Tages nach Antwort aus, laufen dem Postboten meilenweit entgegen und heulen sich die Augen roth, kommt nicht zur rechten Zeit so ein rosenrother Papierfetzen. – ich will solche Wirtschaft nicht – laß es Dir gesagt sein!“

    Was blieb mir übrig? Ich versprach es, und ehe ich abreiste, gelobte mir Frieda noch einmal ewige Treue in der Buchenlaube unten und ich ihr desgleichen, und die Thränen aus ihren großen blauen Augen wollten gar kein Ende nehmen. Ich mußte trösten und trösten und schied mit einem so schweren Herzen, wie man es eben nur haben kann, wenn man jung, Student und so bis über die Ohren verliebt ist, wie ich es in meine kleine blonde Cousine war. Ein Mann, ein Wort! Ich schrieb nicht an Frieda, obgleich ich nicht leugnen kann, daß ich anfänglich täglich einen Brief verfaßte: ich vernichtete ihn aber jedesmal – zu meiner Ehre sei es gesagt! Dennoch gewährte mir diese einseitige, nie ihre Bestimmung erreichende Korrespondenz eine gewisse Beruhigung, denn ich hatte doch Alles das, was mir das Herz zum Zerspringen voll machte, herausgefördert. Daß ich natürlich allerlei kleine erlaubte Listen anwendete, wird mir wohl Niemand verargen können. So zum Beispiel schrieb ich an meine liebe Tante und zukünftige Schwiegermutter einen langen Geburtstagsbrief; bis Dato hatte ich sie immer nur mit einer Karte beglückt, auf welcher ein bunter Blumenstrauß oder pausbäckiger Engel das „Ich gratulire“ illustrirte; nun schrieb ich und schrieb und fragte nach allem Möglichen und so nebenbei auch nach Frieda; denn der Onkel las alle Briefe seiner Frau. Ich erhielt auch eine Antwort auf diesen Brief, aber leider war's ein Lied ohne Worte; denn Tante begnügte sich, mir eine respectable Eßkiste, mit prächtiger frischer Wurst vom letzten Schlachten, nebst den besten Grüßen zu übersenden. „Sie habe so gar keine Zeit zum Schreiben“, war auf der Paketadresse noch hinzugefügt.

    Nun erwies sich die Wurst zwar als sehr delikat, wie es bei einer Hausfrau vom Schlage meiner Tante gar nicht anders sein kann, aber so ganz befriedigte mich diese Antwort denn doch nicht; ich wandte mich in meiner Noth mit der Bitte um irgend einen guten Rath in irgend einer Angelegenheit, in der ich allein ganz gut wußte, was ich zu thun hatte, an meinen Onkel. Diesmal kam auch ein Brief „Junge, laß mich ungeschoren! Ich verstehe nichts davon, frag doch Deinen Alten!“ war ungefähr der Inhalt, und ein letzter Versuch, durch meinen Schwager in spe etwas von Frieda zu erfahren, lief nicht besser ab; denn der zehnjährige Bengel, dem ich wegen eines jungen Teckels schrieb, nach dessen Besitze ich angeblich strebte, antwortete mir freilich auch, aber der ganze Brief war mit Beileidsbezeigungen angefüllt, „weil leider alle jungen Teckel schon vergeben seien“. Gott sei Dank! Ich hätte wirklich nicht gewußt, wohin mit solchem kleinen Ungeheuer. – Aber von Frieda nicht ein Wort!

    Seufzend ergab ich mich in das Unvermeidliche, und siehe, das Jahr verging; ich hatte es kaum für möglich gehalten. Nun war ich „Doctor“ geworden; ich hatte sämmtliche Examina summa cum laude bestanden, die Stelle eines zweiten Assistenten an der königlichen Universitätsklinik erhalten und war mit vollen Segeln in das Forsthaus am Harz eingelaufen, um im Hafen des Glückes zu ankern.

    Aber – o weh! Meine kleine Cousine und heimliche Braut trat mir mit einem Ernst, ja, mit einer Kälte entgegen, verleugnete mit einer Natürlichkeit in ihrem Thun und Lassen jede andere schönere Beziehung zu mir und kehrte so deutlich die Cousine – nur immer die Cousine – heraus, daß mir nichts anderes übrig blieb, als mit möglichster Ruhe, wenn auch mit heimlichem Verdruß, der Vetter zu bleiben, weiter nichts als der „Vetter“.

    Sie war nicht unfreundlich zu mir, o bewahre! Keine Cousine der Welt hätte liebenswürdiger sein können, aber sie vermied doch Alles, was an Vergangenes auch nur im Entferntesten erinnern konnte, und die Buchenlaube dort unten im Garten schien gar nicht mehr für sie zu existiren. Desto mehr für mich; ich saß halbe Nachmittage und des Abends zuweilen bis Mitternacht darinnen, und mitunter klopfte mein Herz zum Zerspringen, wenn in nächster Nähe ein duftiges weißes Kleid durch die Büsche schimmerte und eine anmuthige Stimme ein Liedchen trillerte. So recht aus der Seele klang es freilich nicht, und es schnitt mir in's Herz, wenn sich die zierliche Gestalt, die ich bereits in die Laube treten sah, kurz abwendete, um in einem der schattigen Wege zu verschwinden.

    Onkel und Tante betrachteten mich sorgenvoll, denn daß mir die Geschichte tief zu Herzen ging, mochten sie mir wohl ansehen. Der Cousine Frieda zeigte ich es freilich nicht – um so weher that es nach innen.

    Bis jetzt hatte das Mädchen jedes Alleinsein mit mir zu vermeiden gewußt; um so überraschter war ich, als ich sie plötzlich meinen Namen rufen hörte.

    „Willst wohl zum rothen Hause? Wenn es Dir nicht unangenehm ist, Vetter“ – sie betonte dieses entsetzliche „Vetter“ immer ganz besonders – „so komme ich mit. Vater sagt mir eben, dem alten Wendenburg sei die Frau erkrankt, und Mutter hat mir Tropfen für sie gegeben; sie hat lange Jahre hier im Hause gedient, weißt Du; ich muß also hinüber, und gehe doch so ungern allein durch den Wald.“

    Sie war bei diesen Worten aus dem Gitterpförtchen getreten und stand nun neben mir in ihrem schlichten Sommerkleide, das sie etwas in die Höhe genommen, damit das fleckenlose Weiß mit den feuchten Waldwegen nicht in Berührung komme. Um den Kopf trug sie ein schwarzes Spitzentüchlein geschlungen, und das liebliche Gesicht schaute doppelt reizend aus der düsteren Umhüllung hervor. Zum ersten Male fiel es mir auf, daß sie leidend aussah und daß ein schmerzlicher Zug sich um den hübschen rothen Mund gelegt hatte, den ich vor einem Jahre dort noch nicht bemerkt hatte. Ich erschrak und wollte, Alles vergessend, fragen, ob sie sich krank fühle. Aber ihre Augen blickten gleichgültig an mir vorüber in das Dunkel des Waldpfades, und dabei schwenkte sie mit kindischer Lust ein leichtes Körbchen im Kreise, sodaß ich das teilnehmende Wort unausgesprochen ließ.

    „Unendlich schmeichelhaft, theuerste Cousine!“ gab ich zurück, „ich würde Dir nun zwar gern den weiten Weg ersparen, und in meiner Eigenschaft als junger und patientenhungeriger Arzt den Besuch am Krankenbette Dir abnehmen, aber –“

    Sie zuckte ungeduldig die feinen Schultern.

    „Ich habe diesen Gedanken ebenfalls gehabt und es dem Vater auch gesagt,“ versicherte sie, „aber die Alte ist wunderlich, und Doctoren, noch dazu „junge Doctoren“, haßt sie förmlich; sie würde die Tropfen aus Deiner Hand nicht nehmen, und der Vater will nun einmal, daß ich hingehe.“

    „Ich bin Dir also wirklich genügend zum Schutz gegen etwaige Spitzbuben, Räuber oder was Du sonst zu fürchten scheinst? In der That, dieses Vertrauen –“

    „Warum denn nicht?“ unterbrach sie mich und schickte sich zum Gehen an, „Du bist ja ein baumstarker, großer Mensch und mein Vetter dazu.“

    Ich schritt hinter ihr – und wer mag mir's verdenken? – ärgerte mich über die Launen und Capricen der Mädchen im Allgemeinen und über die meiner Cousine im Besonderen; am liebsten wäre ich wieder umgekehrt, hätte mich nicht eine ganz unbezwingliche Neugier nach dem „rothen Hause“ fortgezogen.

    So wanderten wir nun durch den Wald, sie immer voraus, leise ein Liedchen trillernd, als sei sie in der fröhlichsten Laune der Welt.

    „Halt!“ rief sie plötzlich, „da wären wir ja beinahe daran vorübergegangen!“

    „Woran?“ fragte ich.

    „An dem Grabe unter der Hubertus-Eiche.“

    „Wessen Grab, Cousine?“

    „Ei, frage doch nicht! Du hast ja ein ganzes Actenstück in der Tasche, das die Geschichte des Todten hier erzählt. Vater, der es Dir gegeben, hat gesagt, ich soll Dich hierher führen, bevor wir in das rothe Haus gehen; nun komm!“

    Sie hielt die Zweige von ein paar prächtigen dunkelgrünen Tannen aus einander und wies auf einen schmalen, kaum zu erkennenden Pfad. Ich hatte Mühe, ihr nachzukommen; denn die Büsche schlugen wie ungestüme Wellen hinter ihrer feinen Gestalt zusammen und trafen empfindlich mein Gesicht, als wollten sie mich zurückhalten von dem Betreten dieses Ortes.

    Und nun befand ich mich plötzlich auf einem mäßig großen Platze, rings umstanden von dunklen Tannen; inmitten derselben aber ragte eine prächtige uralte Eiche empor und breitete ihre Aeste wie schützend über einen Hügel aus, der kunstlos aus Feldgestein zusammengefügt war, überwachsen von Waldepheu und Moos. Ringsum die tiefste Stille, die erhabenste Waldeinsamkeit; nur durch die Tannen ging ein leises Rauschen und Flüstern, und zuweilen wehte ein gelbes Blättlein von der Eiche hernieder und blieb in dem dunklen Epheu hängen.

    Ich ging hinüber zu dem schmucklosen Hügel und setzte mich auf die Bank daneben, während meine Hände den Epheu zur Seite bogen, um die Inschrift einer eisernen Tafel zu lesen. Ob hier der Urgroßonkel lag, der wunderliche Alte, der mehr gefürchtet als geliebt wurde in seiner Familie und gestorben war, einsam und verlassen, wie ein verwundeter Löwe in seiner Höhle?

    „Frieda, wer liegt hier begraben?“ fragte ich; denn die ehemals vergoldete Schrift war schwarz geworden und ließ sich schwer entziffern. Aber es erfolgte keine Autwort; sie stand, mir den Rücken zuwendend, und blickte durch einen Aushau in der dunklen Tannenwand zu dem herzoglichen Schloß hinüber, das aus dem grünen Laube des Schloßberges stattlich und vornehm zu uns herübersah. Die Fenster blitzten golden in dem Scheine der Herbstsonne, und die weißen Mauern leuchteten fast blendend; kaum einen Büchsenschuß weit dünkte mich die Entfernung, und doch waren wir eine halbe Stunde gewandert.

    „Schönste Cousine, erhöre meine Bitte und sage mir: liegt hier der räthselhafte Jägersmann und Urgroßonkel?“

    Sie wandte sich um und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht,“ sagte sie dann kurz; ihre Augen ruhten auf dem Hügel, und plötzlich fügte sie mit weicher, völlig veränderter Stimme hinzu: „Es ist ja gleichgültig, wer hier ruht, aber nicht wahr, es ist ein köstliches Plätzchen für den letzten Schlaf? Es träumt sich so süß, wenn der Wald über uns rauscht und die Sonnenstrahlen durch die Zweige lugen.“

    „Ein echtes Waidmannsgrab, Frieda; ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er hier begraben sein wollte, statt in Reih' und Glied mit dem übrigen Menschengesindel auf einem regelrechten Kirchhof zu liegen.“ Und meinen Lieblingsdichter recitirend, begann ich:

    „In kühler Erd', bedeckt von Moos und Farren, Die oft mein Fuß beim Waidmannsgange traf Durch's Tannendickicht – also möcht' ich harren Der Ewigkeit in süßem, stillem Schlaf –“

    „Hast Du die Inschrift schon gelesen?“ unterbrach das Mädchen meinen Erguß rasch. „O, bemühe Dich nicht; ich kann die Verse auswendig!“ und feierlich sprach sie:

    „So lernten wir uns kaum Für diese Welt hier kennen, Wo uns so kurz die Sonne scheint. Wir finden einst, wenn Jeder ausgeweint, Uns wieder, um uns nie zu trennen.“

    Dann wandte sie sich rasch ab.

    „Sehr hübsch, Frieda, aber mich dünkt, es sei just keine Grabschrift für einen Jägersmann.“

    „Du hast wohl Recht,“ sagte sie und brach ein paar Zweige von dem Epheu; dann schritt sie wieder vor mir her durch die dunklen Waldespfade.

    Wenn meine Mutter mit mir während der Ferien zu dem Onkel Oberförster in den Harz reiste, so war Abends im traulichen Familienkreise hin und wieder wohl die Rede gewesen von einem gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts gestorbenen Urgroßonkel. Und mochte nun meine Großmutter von ihm erzählen oder die alte Tante Rieke, die sonst die Prosa in Person war, mochte mein Onkel von ihm berichten oder der uralte Castellan des herzoglichen Schlosses, der mitunter in Schlafrock und Pantoffeln in die Oberförsterei zu einem Plauderstündchen kam, es wob sich immer ein Stückchen echter Poesie wie ein duftiger grüner Tannenkranz um seine Gestalt, die gleichwohl nur undeutlich aus dem Rahmen der Erzählungen hervortrat. Denn von den damals lebenden Mitgliedern der Familie hatte ihn selbstverständlich Niemand mehr gekannt, und nur meine hochbetagte Urgroßmutter erinnerte sich, ihn einmal gesehen zu haben, da er wie ein Einsiedler in dem rothen Hause mit einem alten Factotum von Diener gelebt, der Köchin und Gesellschafter zugleich war.

    „Ich weiß es noch wie heute,“ pflegte sie zu erzählen, „ich saß auf der Gartenmauer und aß Weintrauben; so ein acht- oder neunjährig Ding mochte ich dazumal sein; es war ein kalter Octobertag; wir hatten schon Nachtfröste gehabt, und die Trauben hatte der Fuchs geleckt – darum schmeckten sie so süß. Da kam ein Mann aus der Schloßgartenpforte heraus, langsam und bedächtig; wundersam sah er aus, seine Kleider waren altmodisch, aber wohlerhalten, und sein Haar und Bart silberweiß. Erstaunt blickte ich ihn an und sah ihn näher kommen; er schritt an unserer Mauer entlang, und gerade als er an der Stelle war, wo ich mich neugierig hinüberbog, schaute er empor und – ich weiß nicht mehr, wie er ausgesehen, nur das weiß ich noch, daß ihm Thränen in den Augen standen und auch ein paar Tropfen in dem weißen Barte hingen, und daß ich unwillkürlich und sehr respectvoll „Guten Tag!“ zu ihm sagte. Ob er meinen Gruß erwidert hat, erinnere ich mich nicht mehr. Eine halbe Stunde später aber flog die Kunde durch's Städtchen: Prinz Christian sei todt, und sein so lang verfeindeter Jugendfreund habe an seinem Sterbebett gestanden und ihm die Augen zugedrückt, nachdem sie sich versöhnt.“

    So meine Großmutter. Und nun gab es geheimnißvolles Vermuthen und unnützes Kopfzerbrechen noch hinterher, wie es gekommen sei, daß jene Beiden, die eine glühende Jugendfreundschaft verband, sich so plötzlich trennten. Mitunter wurde ein Frauenname dazwischen geworfen, aber Niemand wußte Näheres, und nur das Eine stand fest: der Unterthan kündigte dem Prinzen die Freundschaft, und so oft auch dieser ihm die fürstliche Hand zur Versöhnung bot, sie wurde mit einer an Verachtung grenzenden Kälte zurückgewiesen, ohne daß die Geduld und Langmuth des Prinzen sich je erschöpfte; als aber der Oberförster, alt und grau geworden, sein Amt niederlegen wollte, da wurde das „rothe Haus“ ihm als Eigenthum zugewiesen und die Oberförsterei in ein neues Gebäude, näher dem Städtchen, verlegt. Und der Einsiedler, der sich sonst schroff und abweisend der fürstlichen Huld gegenüber verhielt, machte in diesem Falle eine Ausnahme und nahm es dankbar an, sein Leben dort beschließen zu dürfen. Nach seinem Tode fiel das Haus an die Herrschaft zurück, laut einer Clausel im Testamente des Prinzen Christian aber blieb es unbenutzt stehen; die Zimmer wurden belassen wie zu Lebzeiten des Besitzers, und nur selten sah die gewölbte Halle einmal eine bunte Jagdgesellschaft, wenn gerade in diesem Revier gejagt wurde und die Zeit zu einem Imbiß gar zu knapp bemessen war, um nach dem eine Meile entfernten Jagdschlößchen zu fahren.

    Und allmählich schwand das Interesse für den Mann, über den seiner Zeit das ganze Ländchen den Kopf geschüttelt. Die Alten starben, und die Jungen nahm das Leben mit all seinen Anforderungen an die rastlos klopfende Brust. Auch ich hatte lange nicht an den längst begrabenen Uronkel im grünen Harzwalde gedacht.

    Gestern Abend nun hatte plötzlich Onkel Oberförster das Gespräch wieder auf jenen Mann gebracht, mir, nachdem Manches hin und her geredet worden, ein Päckchen vergilbter Papiere übergeben und mir mit fast feierlichem Tone gesagt, ich möge sie dort lesen, wo diese Zeilen dereinst geschrieben seien – im rothen Hause; es sei die Lebensgeschichte des Verstorbenen.

    „Ich bin noch nicht gar lange im Besitze des Manuscriptes, hatte er hinzugefügt, „durch einen wunderlichen Zufall kam es in meine Hände; der Pastor in Bergerode – doch das erzähle ich Dir ein anderes Mal.

    Und dort unten am Ende des schattigen Weges, tief hineingebettet in des Buchenwaldes Schweigen, tauchte nun das rothe Gemäuer des einsamen Hauses auf; plump und unschön lag es da mit seinem runden ziegelgedeckten Thurme und den unregelmäßigen Fensterreihen. Eine tiefausgetretene Sandsteintreppe führte zu der hohen Hausthür, auf jeder Seite hielt eine uralte knorrige Linde Wacht, mit einem steinernen Ruhebänklein darunter. Es mochte wohl schon Jahrhunderte überdauert haben, dieses einsame Jägerhaus, und Zeuge gewesen sein der Waidmannslust längst dahingegangener Geschlechter.

    Meine Cousine schritt jetzt etwas rascher voran unter den hochaufstrebenden Buchen; die durch das Blättergewirr fallenden Sonnenstrahlen huschten goldig über ihre schwebende Gestalt und ich blieb stehen und sah sie die moosbewachsenen Stufen der Treppe emporschreiten, die reizendste Staffage zu dem alten Hause. Dann schaute sie sich nach mir um. Ueber ihr krönte ein prächtiges Hirschgeweih die hohe eisenbeschlagene Thür, auf deren einem Flügel ein Käuzchen festgenagelt war, das Gefieder von Sturm und Zeit zerweht und zerzaust. Die in unzählige kleine Scheiben geteilten Fenster blickten schläfrig und erblindet in das üppige Waldesgrün hinaus; Haselbüsche und junger Buchennachwuchs hatten sich bis dicht an die alten Mauern gedrängt und schauten neugierig in die Fenster hinein, den Sonnenstrahlen jeglichen Eingang verwehrend; es wehte schier ein zauberhafter Friede um dieses alte Jägerheim.

    Frieda war ungeduldig geworden. „Kommst Du?“ rief sie, und ließ den eisernen Klopfer der Thür auf die Metallplatte fallen, daß der Schall dröhnend aus dem Hause zurückhallte. Ein Schwarm Dohlen erhob sich vom Thurme, umkreiste ihn erschreckt und schwang sich dann kreischend in den blauen Himmel empor, von innen aber erscholl heiseres Hundegebell und gleich darauf ein freudiges Schnuppern hinter der Thür.

    „Diana, Diana!“ rief das Mädchen leise, „geh, hole den Alten! Es ist Besuch draußen.“

    Bald hörten wir schlürfende Tritte, ein Schlüssel wurde kreischend herumgedreht, und ein alter gebückter Mann mit silberweißen Haaren und eigentümlich scharfen Augen, die den Jäger sofort kennzeichneten, öffnete die Pforte.

    „Das ist mein Vetter Ulrich, Wendenburg! Er will das rothe Haus sehen,“ begann Frieda und überschritt die Schwelle. „Vater läßt bitten, Ihr sollt ihm die Zimmer des alten Herrn aufschließen. – Ich komme zu Eurer Frau; hoffentlich ist's nichts Schlimmes?“

    „Schön Dank,“ antwortete der Alte brummig, ohne mich eines Blickes zu würdigen; nur die Thür öffnete er etwas weiter, um mich einzulassen. Wir waren indessen in einen hallenartigen Flur getreten, der reich decorirt war mit Hirschgeweihen und Rehkronen; über einem hohen Kamine hing das nachgedunkelte Oelbild eines verwegen dreinschauenden Mannes in mittelalterlichem Jagdcostüme; Hundeköpfe und ein schnaubendes Pferdehaupt mit fliegenden Mähnen schaueten ihm zur Seite von der Wand herab.

    „Hakelnberg, der wilde Jäger,“ erklärte Frieda beiläufig, und bedeutete mich, dem vorausschreitenden Alten ein paar ächzende Stufen hinauf zu folgen. Der Hund raste wie toll hinter ihm drein und sprang an ihm empor, als er jetzt stehen blieb, um in einer gewölbten Nische der ungefügen Mauer eine niedrige Thür aufzuschließen. Gebückt trat ich hinter Frieda ein.

    „So, da hätte ich Dich hergebracht,“ sagte sie, „wie ich es dem Vater versprach. – Und nun, Wendenburg, kommt zu Eurer Frau; ich bringe ihr die Tropfen; es ist doch wieder die alte Geschichte, nicht?“

    Der alte Mann antwortete nicht; er rückte ein paar Stühle und fuhr mit dem Rockärmel über die eingelegte Platte des massiven Tisches.

    „Wenn der Herr mich braucht, ich bin im Hinterstübchen,“ murmelte er, „meine Frau schläft jetzt grad'; möcht' sie nicht wecken – werd' das Fräulein rufen, wenn sie aufwacht.“ Dann flog die Thür hinter ihm zu, und wir waren allein.

    Im ersten Augenblick machte das Mädchen eine hastige Geberde, als wolle sie ihm nacheilen; ich sah, wie das bleiche Gesicht von einer purpurnen Röthe übergossen wurde; dann kam sie zurück und setzte sich in einen Lehnstuhl, der am Ofen stand. Sie schloß die Augen und jeder Zug ihres Gesichtes schien zu sagen: „Gott, wie unangenehm und langweilig, aber ich fürchte mich nicht vor dem Alleinsein mit Dir; Gott bewahre, es ist mir ganz und gar gleichgültig.“

    Das ließ sich nun seltsam an, und jetzt wäre es wohl Zeit für mich gewesen, zu fragen: „Frieda, warum bist Du fremd gegen mich? Was that ich Dir? Hast Du mich nicht mehr lieb?“ Dies Alles lag mir auf den Lippen, und doch schwieg ich und wandte mich verletzt ab; sie sah so eiskalt aus, so unnahbar, und ich hatte ein gutes Gewissen. Ueberdies war mir erst kürzlich von einem Freunde gerathen worden, man müsse die Frau vor der Hochzeit erziehen; und hier zuerst sprechen – da hätt' ich jawohl all mein Lebtag verspielt gehabt ihr gegenüber, wenn sie wirklich noch meine Frau werden sollte.

    Meine Frau! Ich seufzte tief auf und warf doch wieder einen Blick zu ihr hinüber, und sie blinzelte eben auch unter den langen Wimpern hervor, aber wie erschreckt schloß sie die Angen, als unsere Blicke sich trafen. „Gut, ich werde thun, als wäre ich allein hier,“ nahm ich mir vor.

    Wir befanden uns in einem mäßig großen, gewölbten Raume; durch die tiefen Fensternischen fiel das Licht nur spärlich hinein. Ein einfaches Bett an einer Seitenwand, ein Schreibtisch am Fenster, am Ofen ein Lehnstuhl, ein Pfeifenbrett und ein Tischchen mit Schachfiguren, eine Uhr in altmodisch verschnörkeltem Kasten, der plumpe Eichentisch und einige Stühle – das war die Einrichtung des Gemaches, streng und einfach.

    Mich fröstelte fast in dem kaltfeuchten Zimmer; ich stieß ein Fenster auf und ließ die warme Herbstluft ein; dann nahm ich einen Pokal von dem Gesims an der Wand und füllte ihn mit dem Weine, den mir die Tante sorglich in die Wandertasche gepackt hatte. Es war ein schönes, geschnittenes Glas mit Jagdstücken; auch eine Inschrift befand sich darauf: „Seinem Freunde Heinrich Mardefeld. Prinz Christian v. S. B.“

    Wo waren die Hände, die einst dieses Glas erfaßt, die Lippen, die sich daran genetzt? – Gestorben, verdorben wie die Freundschaft, die es dem Freunde geschenkt! Was kann nicht Alles verderben und sterben in der Welt!

    Ich zögerte, zu trinken; es war mir, als sollte ich den Mund eines Todten berühren; dann stürzte ich den Inhalt mit einem Male hinunter. Und mit dem feurigen Weine kam eine fast weihevolle Stimmung über mich; Frau Poesie war eingetreten, rückte mir den Schemel zurecht vor dem alten Schreibtische und breitete die vergilbten Blätter vor mir aus. Schon schickte ich mich an zu lesen – da, eine leise Bewegung hinter mir; ich wandte den Kopf und sah in Frieda's Augen. Es lag eine stumme Bitte in ihnen, aber der kleine Mund war trotzig zusammengepreßt; dennoch verstand ich sie, und rasch fragte ich:

    „Kennst Du den Inhalt dieser Blätter?“

    Sie schüttelte stumm den blonden Kopf.

    „Soll ich laut lesen?“

    Sie zögerte mit der Antwort; ich sah, wie sie kämpfte. Dann nickte sie, und beinahe schien es, als gewähre sie mir nur höchst ungern die Gnade, mir zuzuhören; sie schmiegte sich wieder in den Lehnstuhl und sah, meinen Blicken ausweichend, in die dunkle Laubmasse des Waldes hinaus; die grüne Dämmerung wob sich reizend um ihre schlanke, weiße Gestalt; harziger Tannenduft quoll durch das Fenster; die Schatten der Blätter huschten im Spiele des Herbstwindes über das Papier; ringsum feierliches, stolzes Schweigen; nur das Ticken eines Holzwurmes in regelmäßigen Pausen und vom Walde herein der Schrei eines Raubvogels. Und nun senkten sich meine Angen hernieder zu dem Papier, und ich las wie folgt:

    „Am Sonntage Exaudi, Anno D. 1726.

    Vor mir lieget Dein Brief, herzliebster Johannes, und aus jedem Federstrichlein leuchtet mir die Liebe und Freundschaft entgegen, so Du dem Freunde bewahret, ob auch lange Jahre dahingeschwunden, seit wir uns nicht in's Antlitz geschaut. Auch von Deinem Weib und Kindlein schreibst Du, und daß Dein ältest Töchterlein Dich zum Großvater machet, und Dein Sohn candidatus theologiae geworden, und begehrest nun zu wissen, wie es jetzt mit mir stehe?

    Alter Freund, ich könnte es mit den zwei Worten sagen: „ich hab' nimmer verstanden, glücklich zu sein.“

    Aber siehe, da draußen hat mein alter Jobst ein jung blondhaarig Dirnlein zum Besuch, sein Enkelkind, und sie sitzet im Abendschein unter der Linden und singet –

    „Es sind die Lieder, die ich verlor Im wechselnden Laufe der Jahre, Nun kommen mir Wort und Töne zurück Mit ihnen kommt zaubrisch der Jugend Glück Und küsset die silbernen Haare.“

    Du hast es gewißlich niemalen geglaubet, Johannes, daß ich auch dichten könne, maßen wohl manch ein Waidmannsfluch aus meinem Munde ging, nur kein poetisch Verslein; ich glaube auch nicht, daß ich selbiges auszusprechen vermöchte; meine Zunge ist ein ungefüg Ding immer gewesen. Aber da innen im Herzen, da hat es wundersam mitunter geklungen; da haben auch Blumen geblühet und Glocken geläutet, nur nicht herausblühen und tönen konnten sie; ja, wenn das anders gewesen, wenn ich auch hätt' schmeicheln und lachen können, dann –

    Du fragst mich nach dem Heimgange Prinz Christian's, unseres Christels, wie wir ihn nenneten ehedem. Ja, Johannes, wir sind in seinem Sterbestündlein, im Tode, wieder zu Freunden geworden; im Leben waren wir getrennt, Johannes, lange düstere Jahre, und das, was uns trennete, war ein Grab, und unserer Jugend Glück lag darinnen.

    Die wilde Taube unter der Linden girrt noch immer zu, der Teufel hole sie! Wollt' eben aufstehen und ihr sagen, sie möge sich auf den Blocksberg scheeren –

    „Da klang es leise von Lieb und Treu, Wie hold, wie süß die Minne sei – Ein Lied, ein Lied vom Lieben. Im duft'gen Mondschein ein Lindenbaum, Zwo blaue Augen – Es war ein Traum Und einsam bin ich geblieben!“

    Johannes, das ist's ja eben: einsam, einsam! Kein Weib mehr und keinen Freund mehr, und sie sagen noch: ich fühle es nicht, ich habe ein Herz, so härter sei, als der Fels in unseren Bergen. Es ist wahr, Johannes, ich konnt' nicht jammern dazumalen, es war ein Leid, zu groß zum Klagen. –

    Wie es sich begeben?

    Ei nun, Johannes, Du weißt ja noch, wie wir Drei, Prinz Christel, Du und ich zum letzten Male bei einander waren. Du standest bereits im Priesterröcklein an der Schwelle einer fetten Pfarre, und Dein Wesen war schon in Etwas salbungsvoll worden; ich trug noch nicht lang das grüne Waidmannskleid als wohlbestallter Oberförster in unseres herzoglichen Herrn Revieren; fürwahr, unser fürstlicher Freund hatte gesorgt für uns als ein echter Freund; denn wir waren jung an Jahren für solch Amt; er selbst aber wollt' am Morgen des nächsten Tages seine große Cavaliertour antreten zu den fremden Höfen.

    Du weißt gewißlich noch, wie er das Glas, daraus wir den Abschiedstrunk gethan, im hohen Bogen in das Wasser schleuderte und dabei sagete: Niemandes Lippen sollen es wieder berühren, und wie wir uns dann küsseten und noch einmal Freundschaft schwuren, auf daß uns nichts trennen solle in der Welt.

    Du mußt es noch wissen, Johannes; ich wenigstens meine noch, sein jugendlich begeistert Angesicht zu sehen; nie später ist es mir wieder so zum Bewußtsein gekommen, welch ein edelschöner Mann er war. Wie sahest doch Du dagegen aus, Johannes! Wie ein wohlgenährt Eselein neben einem edlen Roß. Und ich? Erspare mir das Gleichniß! Schönheit war niemalen mein Erbe. Doch genug hiervon! An diesem Abende haben wir uns wohl zum letzten Male in alter treuer Freundschaft die Hand gedrückt – vergangen, verloren! Durch wen? Durch ein Weib –!“




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