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    Novalis

    Wer einsam sitzt in seiner Kammer

    Wer einsam sitzt in seiner Kammer,
    Und schwere, bittre Thränen weint,
    Wem nur gefärbt von Noth und Jammer
    Die Nachbarschaft umher erscheint;

    Wer in das Bild vergangner Zeiten
    Wie tief in einen Abgrund sieht,
    In welchen ihn von allen Seiten
    Ein süßes Weh hinunter zieht; –

    Es ist, als lägen Wunderschätze
    Da unten für ihn aufgehäuft,
    Nach deren Schloß in wilder Hetze
    Mit athemloser Brust er greift.

    Die Zukunft liegt in öder Dürre
    Entsetzlich lang und bang vor ihm –
    Er schweift umher, allein und irre,
    Und sucht sich selbst mit Ungestüm.

    Ich fall' ihm weinend in die Arme:
    Auch mir war einst, wie dir, zu Muth,
    Doch ich genas von meinem Harme,
    Und weiß nun, wo man ewig ruht.

    Dich muß, wie mich ein Wesen trösten,
    Das innig liebte, litt und starb;
    Das selbst für die, die ihm am wehsten
    Gethan, mit tausend Freuden starb.

    Er starb, und dennoch alle Tage
    Vernimmst du seine Lieb' und ihn,
    Und kannst getrost in jeder Lage
    Ihn zärtlich in die Arme ziehn.

    Mit ihm kommt neues Blut und Leben
    In dein erstorbenes Gebein –
    Und wenn du ihm dein Herz gegeben,
    So ist auch seines ewig dein.

    Was du verlohrst, hat er gefunden;
    Du triffst bey ihm, was du geliebt:
    Und ewig bleibt mit dir verbunden,
    Was seine Hand dir wiedergiebt.




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